Review Sick Of It All – Scratch The Surface

Der Satz ist mittlerweile längst zur Floskel verkommen: The third album is gonna make it or break it. Doch treten immer wieder genug Fälle auf, die illustrieren, warum diese Phrase überhaupt zu diesem Status gekommen ist. „Scratch The Surface“ von SICK OF IT ALL ist ein solches Beispiel. Nach den ersten beiden bereits mehr als soliden Full-Lengths, dem Debüt „Blood, Sweat And No Tears“ (1989) und dem Nachfolger „Just Look Around“ (1992), wechselte die New-York-Hardcore-Institution für ihren dritten Streich von Relativity Records zum Major-Label EastWest Records. Getreu der Szenementalität wurden Ausverkauf-Rufe laut, die Plattenfirma versuchte die Band als neue Green Day zu vermarkten und ließ den Titeltrack sowie die Hymne „Step Down“ als Singles auskoppeln und mit Musikvideos versehen. Doch wie singt Frontmann Lou Koller in letzterem Song: „In the underground, integrity lies within / In the underground, image doesn’t mean a thing.“

Dennoch – oder gerade deswegen – ließ das Label die Band ihre Platte selbst produzieren, wie sie es auch mit den vorigen Releases schon getan hatte. Dass SICK OF IT ALL mit ihrem Hardcore-Punk zudem seit jeher eine deutliche Spur härter unterwegs sind als The Offspring & Co., sollte dem ganz großen Durchbruch beim massentauglichen Publikum der 1990er zusätzlich im Weg stehen. Erfolgreich war „Scratch The Surface“ trotzdem – und dem Quartett von der Ostküste war der Spagat zwischen gewahrter Street-Credibility einerseits und Fortschritt in Sachen Musikalität und Bekanntheitsgrad andererseits gelungen.

Auch heute, mehr als 25 Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung, besteht „Scratch The Surface“ den Test der Zeit. Wenn man der Platte, die zum ersten Mal die noch heute bestehende Besetzung im Studio festgehalten hat, überhaupt etwas vorwerfen kann, dann vielleicht die etwas zu leise abgemischten Vocals. Die Ähnlichkeit der Songs untereinander ist freilich dem Genre und seinen limitierten Möglichkeiten geschuldet; und doch setzt hier nahezu jeder der 14 Songs nach einigen Durchläufen seine eigenen Akzente – von den hektischen Hi-Hat-Ticks zu Beginn des Openers „No Cure“ bis zum melancholischen, von einem melodischen Basslead getragenen Intro des Rausschmeißers „Cease Fire“.

In nur einem Tempo verweilen die vier New Yorker dabei nur gelegentlich, etwa in den tonnenschweren Groove-Brocken „Consume“ (der als einziger Song in die Nähe der Vierminutenmarke kommt), „Maladjusted“ und „Return To Reality“ oder dem 80-sekündigen Brecher und kürzesten Track „Goatless“. Dieser wird in puncto Intensität und Knüppelfaktor nur von dem ebenfalls zügig durchgeprügelten Knaller „Insurrection“ getoppt. Und wenn gerade von kompakten Songs die Rede ist, lässt sich an den restlichen beiden unter zwei Minuten bleibenden Tracks „Free Spirit“ und „Desperate Fool“ sehr gut beobachten, dass SICK OF IT ALL ihre thrashig-punkigen Uptempo-Attacken gerne mit schleppenden, wuchtig drückenden Mid- bis Downtempo-Passagen würzen. Neben dem perfekten, weil bereits alle Register ziehenden Opener „No Cure“, den ebenso überzeugenden, aber in Live-Setlists übersehenen „Who Sets The Rules“ und „Force My Hand“ drängen sich vor allem „Step Down“ und der Titeltrack in den Vordergrund. Dies mag zum Teil ihrem Status als Single-Auskopplungen geschuldet sein, den sie aber gerade deswegen innehaben, weil sie brillante NY-Hardcore-Songs sind – ersterer mit rockendem Midtempo und kultigem Video-Clip, letzterer mit schwerfälliger Strophe im Wechsel mit rasantem Refrain.

Mit „Scratch The Surface“ haben SICK OF IT ALL nicht bloß mehr metallische Elemente – man möge sich nur die dicken Riffwände von Pete Koller zu Gemüte führen – in ihrem Sound zugelassen, sondern ihre kraftstrotzende Mischung aus stampfendem Hardcore-Groove und zackig gespieltem Streetpunk weiter ausgebaut. Textlich hat der Vierer weit mehr zu bieten, als nur an der Oberfläche zu kratzen: Die genreüblichen Betonungen des Szenekodex und der Bedeutung von Authentizität (und damit einhergehend die Verspottung von Hipstern, Pseudos und anderen Möchtegerns) sind zwar vorhanden, doch prangern SICK OF IT ALL vor allem Ignoranz, Hass, Unterdrückung und Gewalt an und plädieren für Gerechtigkeit und positive Veränderung (selbst wenn das im Zweifel bedeutet, Vergewaltiger die Wut ihrer Opfer spüren lassen zu wollen wie in „Desperate Fool“: „You’ve earned a castration“). Ohne Zweifel ist jedoch der Status von „Scratch The Surface“ in der Diskografie von SICK OF IT ALL: ein absoluter Höhepunkt, den man als Liebhaber von Hardcore-Punk nicht in der Musiksammlung missen sollte.

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Wertung: 9 / 10

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