Interview mit Simon Öller und Dominik Königsdorfer von Anderwelt

Mit „2084“ haben die österreichischen Post-Metal-Newcomer ANDERWELT ein Konzeptalbum zu Orwells Literatur-Klassiker „1984“ geschrieben. Ob das Jahr 2084 für eine solche Dystopie nicht noch zu optimistisch gewählt ist, wie die Band auf einen Cellisten als festen Teil der Besetzung gekommen ist und wie man als Underground-Band trotz Pandemie Promotion für ein Album machen kann, haben wir mit Simon Öller (Gitarre) und Dominik Königsdorfer (Bass) besprochen.

Hallo und danke, dass ihr euch die Zeit für dieses Interview genommen habt. Alles gut bei euch?
Simon: Danke Moritz, alles den Umständen entsprechend gut. Ich hoffe natürlich – wie die meisten –, dass sich bald wieder ein halbwegs normales Leben mit sozialen Kontakten einstellt!

Könntet ihr uns zum Einstieg euren Bandnamen erläutern – was war die Idee hinter ANDERWELT?
Simon: Ich weiß noch, wie wir bei einem langen Brainstorming beisammen saßen. Ein Ziel war schnell klar – und zwar, die Zuhörer in eine ganz eigene andere Welt zu locken. Daraufhin sagte jemand, ich glaub es war Max – unser ehemaliger Gitarrist, Markus Steinberger: „Warum nennen wir uns nicht einfach Anderwelt?“

Ganz allgemein: Stellt uns das Konzept von ANDERWELT doch bitte in ein paar Sätzen vor!
Dominik: Konzept ist ein gutes Stichwort! Wir versuchen immer, ein Album oder Video einem bestimmten Thema zu widmen und unsere Musik, Texte und visuelle Umsetzung darauf auszurichten. Für unser aktuelles Album “2084” haben wir uns George Orwells Klassiker “1984” ausgesucht. Dabei haben sich die – für uns schon typischen – langen und atmosphärischen Songs ergeben, die zwischen ruhigeren und härteren Parts wechseln. Dabei wird unser Cello noch präsenter als bei den Vorgängern, „Schattenlichter“ und „Trinity of Decay“, und gibt unserem Sound eine neue Richtung.

Du hast es gerade schon angesprochen: Euer neues Album trägt den Titel „2084“, ein abgewandeltes Orwell-Zitat. Kannst du das Albumkonzept etwas genauer fassen?
Simon: Wie Dominik bereits erwähnt hat, versuchen wir, Orwells „1984“ weiterzuspinnen und in vier langen Songs neu zu aufzurollen. Wir halten uns bewusst recht nahe am Original, weil das Buch, so wie es ist, für uns perfekt erscheint, gehen aber auf Themen ein, die der Gesellschaft in Zukunft auf den Kopf fallen könnten – Stichwort Datenschutz.  Manche Dinge werden auf die Gegenwart, manche auf die Zukunft umgemünzt. Statt dem Big Brother kommt bei uns eine alles überwachende Big Sister zum Einsatz. Es kann ja gut sein, dass in ferner Zukunft Männer und Frauen gleich gestellt sein werden … Das Auge wird übrigens auch in unserem Bühnenbild integriert sein. Manche „sperrige“ Neusprech-Ausdrücke haben wir auch geändert. Und die unterdrückte Zuneigung zwischen den Protagonisten kommt in „2084“ nicht zuletzt durch unsere Gast-Sängerin Nana Falkner zum Ausdruck.

Das angesprochene Thema Datenschutz ist heutzutage omnipräsent, etwa in Diskussionen über Whatsapp, Websitecookies oder die Corona-Warn-App. Gibt es auch zu viel Datenschutz, oder kann man Daten gar nicht genug schützen?
Simon: Wenn man sieht, wie oft Datenbanken geklaut oder verkauft werden, sollte man sich schon Gedanken zu diesem Thema machen und zumindest vertrauliche Daten nicht leichtfertig hergeben. Uns ist zurzeit nicht bewusst, wie wertvoll personenbezogene Daten sind. In unseren Breiten hält sich der Datenmissbrauch auch noch halbwegs in Grenzen, aber ich habe das Gefühl, es brodelt im Untergrund. Zurzeit werden die Daten hauptsächlich für Werbezwecke verwendet, wenn sie aber in die Hände von korrupten Regierungen fallen, kann es richtig gefährlich werden. Facebook und andere Plattformen haben zwar Datensammlungen vor kurzem verboten, als der Cambridge-Analytica-Skandal öffentlich wurde – das Thema wird aber immer wieder unter den Teppich gekehrt und zu wenig kontrolliert. Nicht zuletzt, weil jetzt Corona im Vordergrund steht. Ich bin aber alles andere als Experte auf dem Gebiet, das ist nur meine oberflächliche Einschätzung.

Wir leben in so vieler Hinsicht bereits in „orwellschen Zeiten“ – ist der Zeitpunkt 2084 da nicht fast zu optimistisch gewählt?
Simon: Das könnte stimmen! (lacht) Aber in Umbruchzeiten wie diesen kann man echt schwer sagen, in welche Richtung das Pendel – oder eher die Abrissbirne – ausschlägt. Wie es in zehn Jahren aussieht, steht aus heutiger Sicht völlig in den Sternen. Manche sagen, jetzt kann es doch nur besser werden! Andere sagen, du hast heute die Nachrichten noch nicht gesehen, stimmt’s? (lacht)

Könnt ihr auf die Songtitel von „2084“ etwas näher eingehen?
Simon: Die Titel der vier Songs entsprechen den vier Ministerien aus „1984“. Da gibt es jeweils eines für Liebe (Luv), Frieden (Pax), Überfluss (Plenty), und Wahrheit (Truth). Die Nummern selbst beziehen sich textuell nicht rein auf diese Ministerien, sondern versuchen in Kürze die Geschichte wiederzugeben. Auch haben wir teilweise Originaltext übernommen (z.B. “Under the spreading chestnut tree …“), jedoch mit unseren eigenen Beobachtungen aus der Realität ergänzt. Etwa, indem wir nicht mehr von Parteien sprechen, sondern von Gruppen allgemein. Jeder von uns fühlt sich irgendeiner Gruppe zugehörig, und alle sind wir in den Informationsblasen unserer Gruppen gefangen. Wir versuchten mit den vier Songs sowohl musikalisch als auch textlich einen Bogen zu spannen, dass man sie in einem durchhören kann, als wäre es ein Hörbuch mit vier Kapiteln…
Dominik: Die vier Songs sind wie gesagt nahe an das Buch angelehnt und erzählen die Geschichte des Protagonisten. Dabei pendeln sie zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen Verzweiflung und Wut. Diese Abwechslung spiegelt sich in den ruhigen Parts auf der einen- und den harten Parts auf der anderen Seite wider.

Gebt uns mal drei Bands, zwischen denen ihr euch musikalisch einsortieren würdet:
Simon: Das ist schwierig … was meinst du, Niki?
Dominik: Da fallen mir ein: Dead To A Dying World, Harakiri For The Sky und Fall Of Efrafa.

In eurer Musik ist das Cello ein fester Bestandteil – wie kam es zu dieser vergleichsweise ungewöhnlichen Erweiterung der Besetzung?
Dominik: Wir suchten für unser Erstlingswerk „Schattenlichter“ jemand für Recording und Mixing. Ich kannte Andi schon seit der Schulzeit und wusste über seine unglaublichen musikalischen Fähigkeiten Bescheid. Er war sofort dabei und von unserer Musik begeistert. Da hat er sich ausgetobt und von sich aus einige Cello-Tracks zum Mix beigesteuert. Als wir das Ergebnis hörten, konnten wir gar nicht anders als ihn als fixes Bandmitglied anzuheuern.

Wie lief der Aufnahmeprozess zu „2084“ ab – wie viel davon habt ihr selbst gemacht, wie viel im Studio?
Simon: Was soll ich sagen… wir haben es uns nicht leicht gemacht. Erst selbst aufgenommen, dann ins Studio zu Jan Kaiser gegangen, danach wieder einige Spuren selbst neu aufgenommen. Das hat sich zwischendurch ziemlich in die Länge gezogen, wir sind eben nicht so leicht zufriedenzustellen… Unser Cellist Andi hat hier unglaubliche Arbeit geleistet. Und weil er auch Zeichner ist, hat er obendrein noch das Cover gestaltet! Nur das Mastering hat Lukas von Deep Deep Pressure Studios übernommen. Wir haben den Prozess übrigens in einem eigens gedrehten „Making of 2084“-Video festgehalten, könnt ihr gern auf YouTube anschauen.

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Ist eine Pandemie ein denkbar ungünstiger oder günstiger Zeitpunkt, um als Underground-Band ein Album zu veröffentlichen – oder macht das keinen Unterschied?
Simon: Ich finde, als Underground-Band ist es in der Tat nicht so schlimm, weil wir ja alle nebenbei mehr oder weniger unseren Alltagsjobs nachgehen und nicht finanziell von ANDERWELT abhängig sind. Das stell ich mir bei so genannten Mittelklasse-Bands schwieriger vor, die stehen jetzt ganz anders unter Druck, wenn beispielsweise das Touring komplett wegfällt.
Dominik: Aber es ist natürlich schade, nicht live spielen zu können. Damit könnte man mehr Leute erreichen. Auf der anderen Seite hat man mehr Zeit, sich auf Social Media zu konzentrieren, was ja auch immer wichtiger wird.

Liveshows sind nicht möglich, und sowas wie Streamshows sind für Underground-Bands quasi nicht zu machen – erst recht nicht, wenn die Kontaktbeschränkungen wieder strenger werden. Was bleibt einer Band wie ANDERWELT, damit ein Album wie eures nicht komplett untergeht?
Simon: Wir hatten das Glück, dass wir im Oktober noch eine kleine Pre-Releaseshow in Linz spielen konnten. Ein Video haben wir bereits im Februar gedreht, also kurz vor dem Lockdown, und ein zweites ist noch in Planung. Wir versuchen zurzeit auch, so gut es geht, via Spotify, YouTube und den andere Socialmedia-Plattformen, durch Video-Interviews und via metal1.info die Werbetrommel zu rühren. (lacht) Wir schließen uns immer wieder mit unseren Partnern von Electric Fire Records und Chat Noir Agency kurz, um ein Maximum an Aufmerksamkeit zu bekommen …
Dominik: Wir haben auch versucht, mit einem Zoom-Meeting für Freunde und Fans den Release so gut es geht zu zelebrieren. Das ist natürlich kein Ersatz für eine echte Release-Show, aber es war sehr amüsant und wir waren von der großen Resonanz überrascht.

Vielen Dank für das Interview. Zum Abschluss unser traditionelles Brainstorming – was kommt euch zu folgenden Begriffen als erstes in den Sinn?
Dein Pandemie-Hobby:
Simon: Erstens #Onethumbriffs: Das ist eine Videoreihe, die ich spontan ins Leben gerufen habe, weil sie ganz einfach in die verrückte Zeit passt, die wir gerade durchmachen. Und zweitens: Renovieren …
Dominik: Meine Freundin und ich haben sich einen Pizza-Stein angeschafft. Wir sind gerade dabei, die perfekte Pizza zu kreieren, die ersten Ergebnisse können sich schon mal sehen lassen. (lacht)
Pantheon I – Black Metal mit Cello:
Simon: Der Name sagt mir was… anyway, hör ich gleich rein… Brutal, direkter Sound, gute Riffs, düster, sehr versiert an den Instrumenten! Die machen ihre Sache auch ziemlich gut! Fast so gut wie wir. (lacht) Oh, die gibt’s schon länger als uns …
Euer Bundeskanzler, Sebastian Kurz:
Dominik: Ist in keiner einfachen Situation, ihm täte aber mehr Demut und Dialogbereitschaft gut. Generell richtet er seine Politik zu sehr auf das Einfangen der FPÖ-Wähler aus und vergisst auf die empathische und soziale Komponente.
Simon: Kurz gibt nach meinem Geschmack noch immer zu viel Geld für Eigeninszenierung aus. Ich mag keine populistische Politik. Gerade jetzt wird es umso wichtiger, dass sich Politiker für sozial Benachteiligte einsetzen.
Aldous Huxleys „Brave New World“:
Simon: „Brave New World“ regt auch zum Denken an, provoziert wie „1984“, wenn auch subtiler. Geht also ebenfalls in eine Richtung wie unser „2084“. „Brave New World“ hat insofern Parallelen zu „1984“ und „2084“, dass die Menschen zu ihrem „Glück“ gezwungen werden. Es wurde im Vorfeld genauso ein totalitärer Staat errichtet, in dem Kunst, Kultur, Wissenschaft und Religion abgeschafft wurden. In beiden Geschichten war – soviel ich weiß – zuvor ein Krieg. Die Machthaber betonen immer wieder, nicht aufmüpfig zu werden, schließlich will ja niemand nochmal so einen Krieg. Natürlich wird rigoros gegen Regimegegner vorgegangen. So kann das System eine lange Zeit aufrecht erhalten werden und die meisten Menschen fügen sich apathisch den Vorgaben.
Eure musikalische Neuentdeckung 2020:
Dominik: Jinjer, Ellende
Simon: Paradise Lost, Katatonia, Eschaton, Dire Straits – Love Over Gold … alles Wiederentdeckungen (lacht)
2+2:
Simon: Fangfrage? Zurzeit 5. In einem Monat hoffentlich wieder 4. Das kommt davon, wenn man sich zu viel in die Materie reinversetzt … (lacht)
ANDERWELT in zehn Jahren:
Simon: Doc Nachtstrom, der Radio-FM4-Redakteur, empfiehlt uns, weiterhin alle vier Jahre ein Album herauszubringen, wir sollen uns weiterhin die nötige Zeit nehmen. Der Vorschlag gefällt mir! Folglich haben wir im Jahr 2031 zwei neue Alben rausgebracht und arbeiten gerade an einem neuen. So ein Szenario würd mich freuen, wir haben uns schließlich bandintern zusammengerauft, die verflixten ersten sieben Jahre überstanden und jetzt können wir solide weiterarbeiten. Vorausgesetzt, wir alle bleiben fit. Auf gut österreichisch: „Schauen wir mal, dann sehn wir’s eh…“

Danke nochmals für eure Zeit und Antworten. Die letzten Worte gehören euch!
Simon: Wir haben zu danken! OK, dann zitiere ich G. Alwar: „Life is all about lows and highs – like a soundwave.“ Ein gleichbleibender Ton wird schließlich langweilig. Modulation macht die Musik schöner und das Leben lebenswerter.
Dominik: Hört euch unsere Sachen an. Wenns euch gefällt: Spread the word! Spielt ANDERWELT euren Freunden vor, erzählt anderen von uns! Und am wichtigsten: Bleibt gesund und bleibt positiv! Nein, das ist kein Widerspruch! (lacht) Gemeinsam kommen wir aus dieser Situation wieder heraus – wir sehen uns auf unseren nächsten Konzerten!

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