Juli 2020

Review Haken – Virus

Nähert man sich HAKENs neuem Album „Virus“ als unbedarfter Hörer, könnte man schnell zu dem Schluss kommen, dass das knallgelbe Cover ebenso das Gegenstück zum Signalrot des Vorgängers „Vector“ darstellen muss, wie auch das aktuelle „Virus“ im unmittelbaren Zusammenhang zum vorherigen „Vector“ steht: erst der biologische Überträger, nun der Ausbruch des Virus.

Erinnert man sich allerdings an die Worte von Gitarrist Charles Griffiths zu „Vector“, hinkt diese Theorie: Laut ihm handelte das Album von einem immer mehr den Verstand verlierenden Patienten, dessen Behandlung zu Wahnvorstellungen führt. Laut HAKEN wird die Geschichte dieses Patienten nun auf „Virus“ fortgesetzt – hä? Können Bakteriophagen, immerhin prominent auf dem Cover von „Virus“ abgebildet, dem menschlichen Gehirn diese Art Schaden zufügen? Noch mehr Verwirrung stiften die Aussagen von Drummer Ray Hearne: „Seit der Veröffentlichung von ‚The Mountain‘ im Jahr 2013 wurde uns immer wieder die Frage gestellt: ‚Wer ist der Kakerlakenkönig?‘ Das ist etwas, das wir ebenfalls vertiefen wollten, also taten wir das im Wesentlichen durch unsere Musik. […] Das Endergebnis ist ein Bogen, der sich über zwei Alben spannt.“

Mit „Cockroach King“ wurde also begonnen, die Geschichte eines Menschen zu erzählen, dessen Wahnvorstellungen (in „Vector“) und schlussendlich sein Irrewerden (in „Virus“) in den darauffolgenden Alben besungen wird – alles in allem liest sich das selbst für ein raffiniertes Genre wie Prog zu abenteuerlich; man wird das Gefühl nicht los, dass um „Virus“ eine größere Geschichte gespannt wurde, um das Artwork- und Betitelungsdesaster der neuen Platte in Zeiten einer globalen Pandemie abzumildern. Gibt man sich damit zufrieden, dass das alles irgendwie auf allen Ebenen metaphorisch zu verstehen ist, findet man schließlich die innere Ruhe, um sich mit dem wirklich Wichtigen zu befassen: HAKEN haben ein neues Album veröffentlicht. Es ist als Schwesteralbum von „Vector“ zu verstehen und schließt die beide Platten umfassende Geschichte um Patient X ab.

Ungewohnt brachial eröffnen HAKEN das Allbum mit dem Opener „Prosthetic“ und liefern damit den bis dato härtesten Track ihrer mittlerweile 13-jährigen Karriere ab; im ersten Moment eine coole Überraschung, im nächsten Moment ein Fragezeichen. Denn „Prosthetic“ ist gewiss eine knackige, aber durchweg generische moderne Prog-Nummer mit Djent-Attacken, die live verdammt viel Spaß machen wird, für HAKEN-Verhältnisse allerdings beinah zu unspektakulär ist. Daran ändern auch die „Affinity“-Reminiszenzen in Form von 80er-Jahre-Keyboard-Tunes nichts. Die nächste Überraschung stellt das in fünf Akte untereilte „Messiah Complex“ dar, ein 17 Minuten währendes Mammutprojekt, das an vielen Stellen unweigerlich an „The Mountain“ und „Vector“ denken lässt – zu Recht! Seien es die abgeänderten Riffs in „Messiah Complex I: Ivory Tower“ oder die „Puzzle Box“-Versatzstücke in „Messiah Complex II: A Glutton for Punishment“; die Verbindung zum Schwesteralbum stellen HAKEN tatsächlich nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch dar.

Die Briten krönen dies in den letzten beiden Parts von „Messiah Complex“ mit den überdeutlichen Parallelen zum ausschlaggebenden Track der beiden Konzeptalben, „Cockroach King“. Dabei verfremden HAKEN das Altbekannte so viel wie möglich, um den Songs ihren eigenen Charakter zu geben, und lassen die Motive so unverändert wie nötig, um diese Parallelen überhaupt ziehen zu können. Zwischen dem vertrackten Opener und dem fünfteiligen „Messiah Complex“ decken HAKEN die ganze Bandbreite ihrer instrumentalen Möglichkeiten ab – instrumental nur deswegen, da Goldkehlchen Jennings unverändert gut durch die Stücke führt, diese aber kantiger, sperriger und weniger melodisch sind als der Rest der bisherigen Diskografie. Die Briten haben das Gleichgewicht von atmosphärischer Dichte und anspruchsvollen Strukturen insofern durchbrochen, als letzteres die Führung übernommen hat.

Zwar verlieren HAKEN mitnichten ihre Melodik, aber auf „Virus“ wird sie spärlicher, nicht als herausragendes, sondern nur ergänzendes Merkmal eingesetzt. Im zehnminütigen „Carousel“ taucht die tragende Epik erst im letzten Moment auf, in der treibenden Up-Tempo-Nummer „The Strain“ liegt der Blickfang eher im auf den Refrain folgenden Riff, „Invasion“ untersetzt den schnell zugänglichen Teil mit Double Bass. Lediglich „Canary Yellow“ bricht aus dem Korsett an mehr Härte und modernem Sound aus und lässt Erinnerungen an die ersten drei Alben von HAKEN aufkommen.

Sich einen Eindruck von „Virus“ zu verschaffen ist eine Herausforderung: HAKEN brechen mit einem ihrer Trademarks und stellen von Jennings getragene Leads zugunsten eines ausgiebigeren Zusammenspiels beider Gitarristen und Drummer Hearne zurück, von dem auch Keyboarder Tejeida nicht profitiert. Diese Richtung hat sich bereits mit dem ersten von Adam Getgood (ex-Periphery) für HAKEN gemixten Album, „Vector“, gezeigt und wurde auf „Virus“ nun konsequent beschritten. Damit wird das sechste Album der Briten zur Geschmacksfrage: Wer die verspielten Elemente eines „Affinity“ nicht missen möchte und „Puzzle Box“ bereits zu harsch empfand, wird mit „Virus“ seine Schwierigkeiten haben; wer den modernen Prog Metal von „Nil By Mouth“ lieber gegen ein vergleichsweise sanftes „Atlas Stone“ eintauschen möchte, wird mit Getgoods Mix nicht warm werden.

Wer hingegen vom Opener „Prosthetic“ nicht verschreckt ist, wird die folgende Dreiviertelstunde mit einem vertrackten wie erfrischenden Riff-Gewitter, einigen unkonventionellen Motivwechseln und einem Hearse in Bestform gut unterhalten werden. „Virus“ kann mit Blick auf die Produktion in einem Atemzug mit „Transcendence“ (Devin Townsend Project) und „Hail Stan“ (Periphery) genannt werden, was zum einen HAKENs Entwicklung erklärt, aber auch die Güte des neuen Albums widerspiegelt.

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Wertung: 8 / 10

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