Review Touché Amoré – Stage Four

Der Tod dient im Metal oft als Quell der Inspiration. Ob Splatter-Text oder Todessehnsucht – zumeist bleibt die Beschäftigung mit dem Thema reichlich abstrakt, der Umgang damit naiv. Eine tatsächliche, emotionale Konfrontation mit dem Topos Tod bleibt unterdessen die Ausnahme: Besser als TOUCHÉ AMORÉ auf ihrem Album „Stage Four“ ist sie lange niemandem geglückt.

Schon hinter dem Titel verbirgt sich weit mehr als die bloße Tatsache, dass es das vierte Album von TOUCHÉ AMORÉ ist. „Stage Four“ ist in der Medizin der Terminus für eine fortgeschrittene Krebserkrankung, die sich auf andere Organe oder Körperteile ausgebreitet hat. Wie bei Sandra Bolm, der Mutter von TOUCHÉ-AMORÉ-Sänger Jeremy Bolm. 2014 stirbt sie. „Stage Four“ ist ihr gewidmet: Die Aufarbeitung eines Todesfalls, wie er alltäglich ist, und doch eine Tragödie.

Das Cover zeigt eine Collage ihrer Haustür – und schaut man dahinter, fühlt es sich an, als sei man in einen privaten Raum eingedrungen. So wenig haben die Texte mit Songtexten, wie man sie kennt, zu tun. So intim lesen sich die Gedanken und Gefühle, die Jeremy Bolm hier niedergeschrieben hat. Ein Tagebuch, ein Abschiedsbrief könnte nicht vertraulicher sein: Bolm rekapituliert in elf Songs seinen Umgang mit der Erkrankung bis zu den Phasen der Trauer, ehe er einen emotional fast unerträglichen Bogen schlägt: „New Halloween“ endet mit der Zeile „I haven’t found that courage to listen to your last message to me“ – das Album als Ganzes mit ebenjener Voice-Message.

„Stage Four“ einfach nur zu hören, nebenbei, wie man Musik eben oft hört, ist deswegen kaum möglich: Bolms sehr verständlicher Gesangsstil zwischen gesprochenem Text und Scream macht es unmöglich, die Texte auszublenden. Und das ist gut so. Denn so schwer die Liebe, die Reue, die Wut und die Trauer in „Stage Four“ zu ertragen ist: Es sind solche Emotionen, die große Kunst ausmachen.

Und die Musik? Die verkommt in Anbetracht der Größe dieses Textwerkes fast zur Nebensache. Allerdings nur, weil sie nicht minder perfekt ist: Die Songs sind etwas länger, deutlich zahmer und insgesamt etwas schlüssiger arrangiert als früher. Vor allem aber gehen sie stets eine absolut stimmige Symbiose mit dem (erstmalig zum Teil sogar cleanen) Gesang ein: Mal zurückgenommen und melodisch, mal hart und treibend unterstützen die Instrumente Jeremy immer so stark, wie es gerade nötig ist.

Wo andere den Tod verherrlichen oder zumindest verniedlichen, fassen TOUCHÉ AMORÉ ihn beim Schopf – demaskieren ihn von all den Totenschädeln und klischeeigen Attributen und stellen ihn schonungslos ins Rampenlicht: Das ist er, der Tod. So sieht er aus. So fühlt er sich an. Und so ist es, mit ihm zu leben. Mit den selbst für Emo/Screamo extrem persönlichen Texten gelingt Jeremy Bolm die Gratwanderung: Nichts an „Stage Four“ ist Kitsch, kein Text wirkt Mitleid heischend, kein Vers auf emotional getrimmt. Und doch bringt einem „Stage Four“ das Gefühl, einen geliebten Menschen zu verlieren, näher, als einem eigentlich lieb sein kann.

Die pseudointellektuelle Plattitüde vom Künstler, der leiden muss, um große Kunst zu schaffen, ist sicherlich Schwachsinn. Was aber stimmt, ist, dass ein großer Künstler aus großem Leid große Kunst schaffen kann. Jeremy Bolm und TOUCHÉ AMORÉ ist das mit „Stage Four“ gelungen – einem einzigartigen, anrührenden Album über das Festhalten und Loslassen, das einem einen dicken Klos in den Hals zaubern kann. Und das gerade deswegen unvergleichlich schön ist.

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Wertung: 10 / 10

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