Black Metal – da denkt man in der Regel an in infernalischem Tempo bearbeitetes Schlagzeug, sägende Gitarren und gekeiften Gesang. LES CHANTS DU HASARD beweisen nach ihrem Debüt aus dem Jahr 2017 mit „Livre Second“ ein zweites Mal, dass all dies nicht unbedingt notwendig ist: Wie schon auf „Les Chants Du Hasard“ setzt der Franzose Hazard auch auf seinem zweiten Album ausschließlich auf Orchesterarrangements, um seine Vision von Black Metal umzusetzen. Das Resultat ist allerdings weit mehr als im wahrsten Sinne des Wortes symphonischer Black Metal.
Das Konzept klingt zunächst absurd, funktioniert aber erstaunlich gut: Schon der Opener „Chant I – Le Bossu“ erzeugt eine extrem düstere Atmosphäre, die durch den bombastischen Sound des Orchesters klanggewaltig aus den Boxen schallt. Und doch ist dies erst der Auftakt zu einem knapp 43-minütigen Klangerlebnis. Durch das geschickte Spiel des Arrangeurs mit der Intensität entfalten die neun Stücke eine dynamische Dramatik, wie man sie sonst nur von Soundtracks oder Theatermusik kennt.
Mal leise und lieblich, mal laut und bedrohlich, mal filigran, mal von Pathos durchdrungen ruft „Livre Second“ auf diese Weise wie von selbst dramatische Filmszenen, fesselndes Schauspiel vor das innere Auge: Ob nun „Planet Erde“ oder „Interstellar“ – hätte Hans Zimmer keine Zeit zur Vertonung gehabt, hätte man es wohl ebenso gut Hazard machen lassen können.
Mit Black Metal im eigentlichen Sinne hat das freilich fast nichts zu tun – und tatsächlich noch weniger als das selbstbetitelte Debüt. Einzig im Gesang lassen sich unverkennbar die Einflüsse heraushören: Anmutige Chöre („Le Marche“) finden bei LES CHANTS DU HASARD ebenso ihren Platz wie der wahnwitzige Black-Metal-Gesang von Vaerohn, seines Zeichens der Großmeister hinter den Avantgarde-Black-Metallern Pensées Nocturnes („Le Voleur d’Yeux“). In „Thelxope“ oder „La Course“ treffen beide Gesangsstile sogar unmittelbar aufeinander.
Was für den Black-Metal-Fan ein Ankerpunkt sein könnte, dürfte für alle anderen bestenfalls ein dramaturgisches Element unter vielen sein: Black Metal nicht zu mögen ist jedenfalls kein Grund, sich nicht mit „Livre Second“ zu befassen. Vielmehr kann dieses Album gerade auch Hörern ohne direkten (Black-)Metal-Bezug nahegelegt werden.
Hier experimentiert kein Rock-Musiker mit klassischer Orchestrierung, wie das in Metal nur allzu oft der Fall ist – hier werden zwei Welten von einem Mann verknüpft, der in beiden zu Hause zu sein scheint. Sieht man von einigen Gesangspassagen und der eventuell noch in das Werk interpretierbaren, sinistren Grundstimmung ab, ist Black Metal dabei eher die Inspirationsquelle denn die Ausdrucksform des versierten klassischen Komponisten, der einen Vaerohn als Gastsänger oder einen Jeff Grimal (The Great Old Ones) als Cover-Künstler involviert – und komponiert, als wäre er der Teufel auf Hans Zimmers Schulter.
Wertung: 9 / 10