Interview mit Keithan & Temüdjin von Maïeutiste

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Dass MAÏEUTISTE hohe Ambitionen haben, ist bereits aus ihrem Bandnamen, der sich auf eine auf Sokrates zurückgehende, philosophische Methodik bezieht, herauszulesen. Doch nicht nur thematisch, auch musikalisch geben sich die französischen Black-Metaller auf ihrem zweiten Album „Veritas“ bemerkenswert anspruchsvoll. Im Interview mit Frontmann Temüdjin und Bassist Keithan stehen die beiden Rede und Antwort zu den Barockeinflüssen der Platte, dem Antagonismus im Black Metal und den mitunter etwas ulkigen, konzeptionellen Namen französischer Post-Rock-Bands.

Soweit ich weiß, habt ihr eure Band MAÏEUTISTE nach einer von Sokrates begründeten, philosophischen Methode der Erkenntnisgewinnung benannt. Was genau hat euch zu dieser Namenswahl bewogen?
Ja, in der Tat, wir haben diesen Namen gewählt, weil wir aufrichtig versuchen, einige Ideen über Wissen und Gelehrsamkeit hervorzubringen. Die Kunst, Ideen zur Welt zu bringen, ist ein faszinierendes Konzept, das in unserer Vorstellungskraft nachklingt.

Eure erste Demo trägt außerdem den Titel „Socratic Black Metal“ – man kann wohl davon ausgehen, dass altgriechische Philosophie und insbesondere Sokrates euch geprägt haben. Woher rührt euer Interesse an dieser Thematik?
Unsere Interpretation von Maieutik sollte in unserem Songwriting eher poetisch als philosophisch interpretiert werden. Black Metal ist im Konflikt verwurzelt, er sublimiert Kunst als Ideal des Antagonismus. Er ist sicherlich nicht die einzige Kunstform, die das tut, aber er kristallisiert diese Frage für uns auf aufrichtige Weise heraus. Als wir 2006 unser Projekt mit Eheuje gründeten, wurde uns klar, dass es gekünstelt von uns erscheinen könnte, Satanismus und Folklore mit Black Metal zu vertonen. Was den Titel betrifft, er war eher als Provokation gemeint, denn wir waren sicher, dass er von Puristen kritisiert werden würde, und wenn es der Fall war, haben wir gewonnen!

Ihr vereint in eurer Musik verschiedene Stilrichtungen, im Vordergrund steht jedoch der Black Metal. Aus welchem Grund bietet sich gerade dieses Genre deiner Meinung nach zur Vertonung eurer Konzepte an?
Abgesehen von meiner obigen Erklärung liegt der Grund, aus dem wir beim Black Metal bleiben, eher in unserer Sensibilität. Vielleicht, weil er roh und aufrichtig ist, wie eine mächtige Deklamation. Dass wir viele andere Einflüsse einbringen, geschieht jedoch spontan.

Euer selbstbetiteltes Debütalbum war ausgesprochen umfangreich und stilistisch breit gefächert, manchen Hörern dadurch jedoch zu aufgebauscht und nicht konsistent genug. Wie denkst du über diese Kritikpunkte?
Das können wir voll und ganz akzeptieren. Unser erstes Album wurde während eines Jahrzehnts kreiert. Wir waren ehrgeizig in unserem Ansatz und erkannten unsere Fehler, wie sie kamen. Wir wollten von der Geschichte erfüllt werden, die wir in diesem Album erzählten.
Dennoch bereuen wir nicht, wie und mit wem es kreiert wurde. Es war experimentell, jugendlich, aber wir waren darin verwickelt, vielleicht manchmal zu anspruchsvoll…. wie es viele Black-Metal-Hörer vorgeben zu sein! (lacht)

Zwischen eurem ersten und eurem neuen Album „Veritas“ liegen vier Jahre. Was hat sich in dieser Zeit bei euch in der Band getan?
Wir sind an vielen Projekten beteiligt. Außerdem sind unsere Jobs und unsere Studien zeitaufwändig. Wir wollten uns auch bei der Aufnahme ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bewahren. Unser Freund und Toningenieur James Leonard von Plastic Lobster Studios, der uns seine Expertise für die Produktion zur Verfügung stellte, hat unter den Einschränkungen des Heimstudios einen fantastischen Job gemacht. Während dieser Zeit veröffentlichten Keithan und James, die auch an Barus (einer Death-Metal-Band) beteiligt sind, 2018 ihr erstes Album „Drowned“, was sich auch auf das Veröffentlichungsdatum von „Veritas“ auswirkte.

Euer aktuelles Album ist etwas kürzer und aus meiner Sicht auch etwas homogener als euer Debüt. War dies beim Songwriting und bei der finalen Auswahl der Tracks euer angestrebtes Ziel?
Ja, eines der Ziele dieses Albums war es, eine nachvollziehbarere und damit mächtigere Veröffentlichung herauszubringen. Das erste Album war mühsam, besonders wenn es darum ging, es in physischer Form herauszubringen: zu lang für eine CD, viel zu lang für eine LP. Wir haben fast drei verschiedene Masterings gemacht, jedes einzelne war kürzer als das vorherige. Wir haben einige Tracks gestrichen, damit die übrigen darauf passen. Deshalb ist unser Vinyl-Remaster fokussierter und effizienter. Darüber hinaus brauchte das erste Album diese Vielfalt, sodass es die Grenze der Konsistenz überschritt.
Mit „Veritas“ war es viel einfacher. Sechs Tracks reichten aus, um die Atmosphäre und den Rhythmus zu schaffen, die wir erreichen wollten. Die Schwierigkeit bestand mehr in dem Wunsch, unsere Charakteristika zu meistern.

Die Platte wurde außerdem als progressiver als ihr Vorgänger beschrieben. Worin macht sich diese Entwicklung deiner Ansicht nach bemerkbar?
Wir sind keine wirklichen Kenner der Klassifizierung von Musikgenres, aber man kann sagen, dass das Progressive in unserem Songwriting immer offensichtlich war. Wir versuchten, Lieder mit einer narrativen Konstruktion zu erarbeiten, mit Variationen und Transformationen während jedes Liedes. Wir sind uns aber darin einig, dass dies auf „Veritas“ noch relevanter ist. Es ist noch flüssiger, würden wir sagen!

„Veritas“ ist, soweit ich weiß, teilweise vom Barock beeinflusst. Wie kam es dazu, dass diese Epoche in euren kreativen Prozess Einzug gehalten hat?
Jeder Einfluss in MAÏEUTISTE schwingt wie eine Besessenheit in uns mit, wie etwas, das wir ständig horten. Die Barockzeit kann als eine Zeit des Aufblühens, der Aufwertung angesehen werden. Durch sie fanden wir den Kontrast, den wir uns für das erste Album in verschiedenen Bereichen wünschten: Grau zu Gold, karg zu großspurig.

Die Barockeinflüsse sind vor allem in dem Artwork und dem Interlude „Spiramus“ offensichtlich. Würdest du sagen, dass der Barock das Album auch anderweitig – etwa bezüglich der anderen Tracks oder der Texte – geprägt hat?
Der Track „Suspiramus“ ist eine freie Adaption des zweiten Satzes von Allessandro Scarlattis Salve Regina, „Ad te suspiramus“. Es war eine Besessenheit von Keithan und er wollte diesen inneren Dämon exorzieren.

Einige Instrumente – insbesondere die Streicher – wurden von Gastmusikern eingespielt. Die Gastbeiträge kommen jedoch eher ergänzend zum Einsatz. Ziehst du in Betracht, derartige Parts in Zukunft zu einem integraleren Bestandteil eurer Musik zu machen?
MAÏEUTISTE war schon immer eine kollektive Erfahrung mit ständigen und mit Gastmitgliedern. Wir mögen es wirklich sehr, viele Aspekte in unserer Musik auszudrücken. Über die Gäste haben wir die Möglichkeit, ein neues Instrument einzubeziehen, aber auch jemanden mit einer Persönlichkeit, der eine neue Vielfalt in das Songwriting bringt. Natürlich lieben wir es, Streicher zu verwenden und wir wollen sie in Zukunft noch mehr einsetzen, aber eigentlich ist es schwer zu sagen, wie es mit der nächsten Platte weitergehen wird.

Meiner Meinung nach ist die Produktion des Albums sehr kraftvoll, der Klargesang ist jedoch etwas leise abgemischt. Warum wolltet ihr die Clean-Vocals nicht so weit im Vordergrund haben?
Die Clean-Vocals werden auf „Veritas“ meist wie ein Chor verwendet, wie im antiken Theater, wie eine Deklamation vor einer Menge. Die Produktion selbst ist kraftvoll, aber „weit entfernt“, „hallend“, wie ein Theater. Auf der nächsten Platte wird es sicher anders sein, denn wir wollen etwas anderes machen.

Über den Albumtitel „Veritas“ (zu deutsch „Wahrheit“) lässt sich auf alle Fälle ausgiebig philosophisch diskutieren. An welche Wahrheit bzw. Wahrheiten habt ihr bei der Wahl dieses Albumtitels gedacht?
An alle! Bei „Veritas“ geht es um die Natur der Wahrheit, nicht um die Wahrheit selbst. Das wäre absurd und prätentiös! Der Begriff der Wahrheit ist vielfältig. Es geht mehr um persönliche Erfahrung mit der Welt um einen herum, um den eigenen Standpunkt.

Das Konzept der Wahrheit per se wird vielfach debattiert, wobei mitunter argumentiert wird, dass es gar keine objektiv feststellbare Wahrheit gibt. Wie siehst du das?
Wir würden sagen, dass es schnell tautologisch wird, von absoluter Wahrheit zu sprechen. Ein Name einer Idee ist der Kern der Idee selbst.

Kommen wir wieder auf euer derzeitiges Album zu sprechen. Ich finde es interessant, dass ihr es mit den beiden Titeltracks eingerahmt habt und in beiden Nummern dasselbe musikalische Motiv aufgreift. Was hat es damit auf sich?
Diese beiden Tracks sind für uns eher wie einer. Der Beginn der Reise war bereits in unserem Kopf abgeschlossen, wie ein Kreis, eine Tautologie.

„Veritas II“ beginnt mit lieblichen Clean-Gitarren, die beinahe schon an die weltvergessene, friedliche Stimmung der Musik von Alcest erinnern. Was war eure Intention dahinter, das Stück auf diese Weise einzuleiten, wo das Album ansonsten doch sehr intensiv klingt?
Diese Clean-Gitarren waren mehr vom Post-Rock und den beschleunigten Arpeggios von Mournful Congregation beeinflusst. Aber du hast Recht, es ist wie eine Seligkeit vor dem Weg, der zur endgültigen Antwort auf diese Reise führt, wenn wir wirklich sagen wollen, dass es eine Antwort ist.

Im Anschlusstrack gibt es außerdem etwa zehn Minuten lang Stille, dann bekommt man noch ein paar düstere Sounds zu hören. Inwiefern macht es deiner Ansicht nach Sinn, den Hörer so lange auf ein kurzes Outro warten zu lassen?
Auf vielen CDs, die wir lieben, gibt es geheime Tracks. Und wir haben es in diesem Sinne umgesetzt. Stille ist jedoch notwendig und interessant, um zwischen den Songs etwas Platz zu schaffen. Dieser letzte, nicht separat gezählte Track wurde von Celui Du Dehors, einem Freund von uns, gemacht. Wir haben uns über seinen Vorschlag gefreut, aber ich möchte ihn nicht weiter ausführen. Es gibt viele Geheimnisse dazu.

Wie wird es mit MAÏEUTISTE als Nächstes weitergehen? Habt ihr schon Pläne für Live-Shows oder könnt ihr schon sagen, wie bald ihr damit anfangen werdet, an einem weiteren Album zu arbeiten?
Keithan: Wir haben bereits einige Live-Shows gebucht und wollen noch viel mehr spielen! Unser nächstes Projekt läuft bereits, aber ich kann im Moment nicht viel darüber sagen, nur dass es vielschichtiger und überraschender sein wird!

Zum Abschluss möchte ich mit dir gerne unser traditionelles Metal1.info-Brainstorming durchgehen. Was assoziierst du mit den folgenden Begriffen?
Gotik: Temüdjin: Als hauptberuflicher Architekt sage ich: „Handwerk, Geduld und Grenzen überschreiten“. Die gotische Architektur war so!
Keithan: Ich würde sagen, ein Versuch, in den Himmel zu steigen, eine weniger reuevolle Art, Gott zu unterstützen.
Post-Rock: Temüdjin: Hm, da ich diesen Musikstil nicht wirklich höre… mal sehen: unglaubliche, französische Poesie und überkonzeptionelle Bandnamen? Ernsthaft, in meiner Stadt (Lyon) kann man zu einem Konzert mit drei Bands gehen, bei dem die Bands nach den französischen Wörtern für „Sturm“ (Orage), „Nebel“ (Brume) und „Wellen“ (Vagues) benannt sind. Okay, Leute, wir wissen, dass ihr den gestrigen Wetterbericht gesehen habt!
Keithan: Mogwai, definitiv!
Zeitgenössische Philosophie: Temüdjin: Gilles Deleuze, ein nicht ganz zeitgenössischer Meister.
Keithan: Ich würde sagen, Clément Rosset.
Ignoranz: Temüdjin: Die wahre Katastrophe dieses Jahrhunderts!
Keithan: Oder ein Segen, mit dem wir gepriesen sind!
Französische Metal-Szene: Temüdjin: Lebendig und überraschend, wie es alle französischen Dinge sein sollten!
Keithan: „Chaining The Katechon“, Punkt.
Klimakrise: Temüdjin: Ok, versuchen wir, bei dieser ernsten Angelegenheit ein wenig positiv zu sein… Es ist eine Gelegenheit, eine neue Zivilisation entstehen zu sehen. Aber brutale und drastische Veränderungen haben immer ihren Preis!
Keithan: Perm-Trias-Grenze (die Rückkehr), nächsten Sommer im Kino!

Nochmals vielen Dank dafür, dass du uns deine Zeit geschenkt hast. Gibt es noch ein paar letzte Worte, die du gerne an die Leser richten würdest?
Hütet euch vor denen, die behaupten, DIE Wahrheit für sich zu haben!

Publiziert am von Stephan Rajchl

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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