Ein Journalist kann noch so gut recherchieren – am Ende kann trotzdem niemand Skandale und Missstände so gut aufzeigen wie ein echter Insider. Jemand, der eine Szene oder Branche jahrzehntelang beobachtet hat, in ihr und für sie gelebt hat. Jemand wie Berthold Seliger, was das Musikbusiness anbelangt.
1988 gründete er eine Konzertagentur, war als deutscher Tournee-Veranstalter unter anderem für Lou Reed und Van der Graaf Generator tätig. Nebenher bloggt und publiziert er, natürlich zum Thema Musik. Und er hätte vermutlich schon nach den ersten Sätzen vehement gegen den Begriff „Musikbusiness“ protestiert. Denn was Seliger ausmacht, ist, dass Musik für ihn Kunst geblieben ist, obwohl er selbst sein Geld in der Branche verdient. Und dass er über die Jahre einen gewaltigen Groll auf all jene aufgestaut hat, die das anders sehen. Auf dieser explosiven Mischung – Insiderwissen und Zorn – basiert sein 2013 erstveröffentlichtes, mittlerweile in 7. Auflage (2015) vorliegendes Werk „Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht“.
Mag der Titel und die Rubrik „Sachbuch“ angestaubt und bieder klingen – das Buch ist alles, nur das nicht. Das ist bereits nach dem Vorwort klar, einem emotionalen Manifest gegen den Musikkapitalismus. Und das zeigen die insgesamt 350 Seiten, auf denen Seliger Kapitel um Kapitel mit der Musikindustrie abrechnet und so anschaulich wie detailliert darlegt, wer im Musikbusiness wo und wie Geld verdient. So viel sei vorweg verraten: Die Künstler sind es in den seltensten Fällen. Wenn doch, sind sie, wenn es nach Seliger geht, meist keine Künstler mehr: Nicht zu Unrecht kritisiert er etwa im Kapitel „Sponsoring“, dass die Stars von heute für Geld alles tun – und ihre Integrität als Künstler dabei oft weit hintanstellen.
Vornehmlich geht es aber nicht um die Künstler, sondern ihre „Verwerter“ – sei das nun die GEMA, deren dubiosen Strukturen und Verteilungsschlüsseln Seliger ein eigenes Kapitel gewidmet hat, die Live-Industrie oder die Tonträgerindustrie, der Seliger in einem flammenden Plädoyer fürs Streaming die Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte um die Ohren haut. Ob der Brisanz der von ihm dargestellten Methoden zur Monetarisierung von Musik liest sich sein Insiderbericht über weite Strecken eher wie ein Wirtschaftskrimi denn wie ein Sachbuch. Das Opfer sind dabei – wenig überraschend – oft die Künstler, aber immer die Fans.
Am deutlichsten wird das direkt im ersten Kapitel, in dem Seliger ausführlich und, wie auch im restlichen Buch stets mit Zahlen, Fakten und unzähligen Quellen untermauert, die geradezu mafiös anmutenden Verstrickungen aufdeckt, die „Veranstalter, Agenten, Tickets und Big Data“ im Live-Sektor verbinden und Fans das Grauen lehren sollten: Die Machenschaften global agierender Monopolisten, die als Konzertveranstalter, Ticketverkäufer, Hallenbetreiber und Festivalveranstalter auftreten, Bands fast nach Belieben pushen oder blockieren können und Fans mit kreativen Zusatzgebühren abzocken. Dieses Thema sollten niemandem egal sein, der bei Ticketmaster (Live Nation) oder Eventim Konzerttickets kauft. Und das wiederum ist so ziemlich jeder Konzertbesucher weltweit – sind die beiden genannten Firmen doch mittlerweile fast „alternativlos“.
Mal zitiert Seliger dabei Adorno, mal Jahresbilanzen – und zwischendurch lässt er seinem Ärger unverblümt freien Lauf. Genau diese Mischung macht „Das Geschäft mit der Musik“ als stellenweise recht subjektiv verfasste Abrechnung zwar angreifbar, aber eben auch so lesenswert. Hier will jemand nicht nur dokumentieren, sondern aufklären, etwas erreichen: Eine Musikwelt, die nicht länger von Markt und Marken dominiert wird. Warum das erstrebenswert wäre, wird besonders in den letzten Kapiteln klar, wenn Seliger das Ergebnis der mangelhaften staatlichen Kulturförderung in Deutschland darlegt: Eine zahnlose und unpolitische, da finanziell von Erfolg und Sponsoren abhängige „Musikkultur“, die nur noch von Mittelständlern und sozial priveligierten genossen, vor allem aber auch gemacht werden kann.
Wer sich als Ticketkäufer schon mal gefragt hat, warum es beim Vorverkaufspreis immer „plus Gebühren“ heißt und diese immer teurer werden, wer als Musiker endlich fundiert über die GEMA schimpfen möchte und wer sich fragt, warum die Musikindustrie den Trend zum Streaming so verschlafen hat, dass nun einige wenige Konzerne den Markt beherrschen, ist mit diesem Buch goldrichtig beraten: Hier werden die zentralen Segmente des heutigen Musik-Business bis auf die Knochen durchleuchtet. Spannend und verständlich, vor allem aber mit dem Feuer eines Mannes, für den Musik eben nicht nur Produkt, Content oder verwertbares Material, sondern Kultur ist.
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