ERNEST spielen Herbstmusik, wie sie nur Wenige spielen. Herbstmusik mehr für die hellen, klaren Tage, an denen die Luft nach Laub riecht und Spaziergänger mit ihren Stiefeln herrlich raschelnd durch das kunterbunte Blättermeer schlurfen. Die Franzosen tauchen die Welt in warmes Sepia. Und wenn die Sonne dann am Horizont versinkt, laden sie ein in ihren Salon – zum ausgelassenen Tanz im Gaslicht. Allerlei Mutanten mischen sich unter die Gäste. Sogar ein Wiedergänger Napoleons steht an der Bar und nippt an seinem Absinth. Auch Jules Verne hat die Dampfeisenbahn genommen, um die Party nicht zu verpassen. Kaum hat er seinen Zylinder der Garderobiere übergeben, gleitet der Schriftsteller über das Parkett wie ein junger Gott.
Mit ERNEST hat sich das kleine deutsche Qualitätslabel Delicious Releases eine freakige Perle in die Schatulle gelegt. „En attendant la suite du Passé“ ist bereits das zweite Album der Gruppe, das sich alle Traumtänzer getrost auf den Einkaufszettel schreiben können. Zu hören gibt es darauf poppigen Chanson-Rock – mit mehr. Viel mehr. Denn die Strasbourger verstehen sich als Teil der Steampunk-Bewegung, die in ihren Outfits bekanntlich alles Mögliche zusammenwürfelt: Die Ästhetik der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert verbindet sich mit Viktorianik, Futurismus und einem Hauch Goth.
In etwa so klingt tatsächlich auch ERNESTs Musik. Denn die Band versieht ihre Arrangements mit allerlei Gimmicks: Da ist etwa das Honky-Tonk-Piano, das sich frech in den Vordergrund spielt. Hier und da öffnet ein Banjo das Klanggeflecht und lässt einen Hauch Americana durch den französischen Salon wehen (besonders auffällig im ersten Song, „Chez l’Antiquaire“). Dunkle Blechbläser bringen ihre herbe Zartbitter-Note mit ein (nachzuhören etwa in „Sinon Quoi“). Sogar eine Kinderstimme mischt sich ins Geschehen ein („L’enfer Ne Dure Qu’une Vie“). In der luftig-leichtfüßigen Popnummer „Frankensteinia“, einem Highlight der Scheibe, erklingen gar ein großes Glockenspiel und ein Synthesizer, der es im sonst akustischen Gebälk ordentlich knarzen lässt. Ein Solo auf der Hammond-Orgel veredelt das flotte „Créme Anglaise“.
All das heißt aber nicht, dass sich ERNEST hinter derlei Effekthascherei verstecken müssten. Der Rhythmus-Fraktion gelingt das Kunststück, tänzelnd-swingenden Nummern (etwa „Bonaparte“ und „Voulzy Thérapie“) genauso gerecht zu werden wie discoartigen Stampfern (zum Beispiel „Club De Bridge“). Hinzu kommen warme E-Gitarren-Sounds, die im Abschlusstrack „Casse-Toi“ besonders gut zur Geltung kommen. Überhaupt entwickelt sich der Closer spätestens nach einigen Hördurchgängen zu einem Höhepunkt. Er legt eine Facette der Band offen, die zwar vom ersten Song an zwischen den heiteren Tönen mitschwang, jedoch erst jetzt ihre volle Pracht entfalten darf: die Melancholie. Hier darf auch Frontmann Julien Grayer (alias Ernest) glänzen, der mit leicht heiserer und doch anschmiegsamer Stimme den Serge Gainsbourg gibt – verkleidet als dandyhafter Märchenonkel.
„En attendant la suite du Passé“ funktioniert auf zweierlei Weise: Als angenehm leichtgängige musikalische Unterhaltung für nebenbei – keinesfalls zu verwechseln mit Fahrstuhlmusik. Und als kleines musikalisches Schatzkistchen, das dem, der sich die Zeit nimmt, bewusst zu hören, nach und nach immer mehr Feinheiten offenbart, die ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern. Märchenhafte Unterhaltung, die das Kopfkino anschmeißt, das Wohnzimmer in einen Pariser Salon verwandelt und den Spaziergang durch den herbstlichen Stadtpark in einen Flaniernachmittag durch die Parks der Stadt der Liebe.
Wertung: 8 / 10