Interview mit Vortigern von Lychgate

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Mit „The Contagion In Nine Steps“ haben die Briten LYCHGATE sowohl musikalisch als auch thematisch ein höchstinteressantes Album zwischen Black, Doom und Avantgarde Metal geschaffen. Im Interview hat uns Mastermind und Multi-Instrumentalist Vortigern unter anderem tiefere Einblicke in das gruppenpsychologische Textkonzept, die Rolle, die Social Media dabei spielen, sowie seine Sicht auf die britische Metal-Szene gewährt – lest hier selbst seine Antworten:

Mit LYCHGATE spielt ihr avantgardistisch angehauchten Black und Doom Metal. Was war eure Intention, als ihr das Projekt 2011 ins Leben gerufen habt? Warum musste da eine neue Band her, obwohl ihr alle auch andere Projekte habt?
Es war nicht möglich, so etwas wie bei LYCHGATE mit einem anderen Projekt zu tun. Ich spielte in anderen Bands, aber um neue Bereiche zu erkunden, war es notwendig, LYCHGATE zu gründen. Es war aber nicht unbedingt so auf dem ersten Album – das erste Album war mehr eine Hommage an einige alte Demos von 2006 usw. (es gibt technisch gesehen ein Projekt, das LYCHGATE voranging, zwischen 2002 und 2004, genannt Archaicus – wir werden diese Demos dieses Jahr neu veröffentlichen).

Avantgarde ist ein ziemlich schwammiger Begriff. Was zeichnet euch deiner Meinung nach als avantgardistische Band aus?
Ich versuche, diesen Begriff zu vermeiden, weil er den Menschen eine falsche Vorstellung davon vermittelt, was sie erwartet. Wir wurden damit von der Öffentlichkeit und der Presse bedacht und weil uns keine Referenzen und ähnliche Bands einfielen, ließen wir es zu. Das Wort „progressiv“ kann auch manchmal irreführend sein.
Obwohl man weiß, was Avantgarde bedeutet, habe ich mir die Freiheit genommen, es nochmal nachzuschlagen, und laut dem Cambridge Wörterbuch ist es definiert als „….Ideen, Stile und Methoden (die) zu der Zeit, in der sie (auftreten), sehr originell oder modern sind“. Es ist auch „….eine Kritik an bestehenden ästhetischen Konventionen“ und eine „Ablehnung des Status quo zugunsten einzigartiger oder origineller Elemente und der Idee, das Publikum bewusst herauszufordern oder zu entfremden“.
LYCHGATE passt also technisch zu diesen Definitionen, und ich denke, das Zitat beantwortet deine Frage, mit Ausnahme des letzten Punktes wahrscheinlich. Man könnte sagen, dass wir die im Zitat genannten Wege weitergehen wollen. Ich bin gegen Stagnation und Wiederholung alter Formeln, aber das Motto, das ich dennoch gerne für LYCHGATE verwende, ist meist „Tradition und Innovation“.

Großbritannien ist nicht so bekannt für seine Extreme-Metal-Szene wie etwa Norwegen, aber es gibt doch einige angesehene Bands. Denkst du, es gibt ein bestimmtes Charakteristikum, das eure Szene auszeichnet?
Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass Großbritannien bekannt ist für klassische Metal-Bands wie Iron Maiden, Motörhead, Black Sabbath, Venom, Judas Priest und später Doom-Metal-Bands wie My Dying Bride, Cathedral, Esoteric, Solstice, Electric Wizard, Paradise Lost und natürlich Death-Metal-Bands wie Carcass und Bolt Thrower, oder auch thrashige Bands wie Sabbat und Onslaught. Im Gegensatz dazu hat Norwegen hauptsächlich Black Metal als Hauptexport angeboten. Aber in Großbritannien herrschen heutzutage natürlich andere Zeiten, und ich glaube nicht, dass es noch ein hervorstechendes Merkmal gibt, wie es in den 80ern und 90ern der Fall war (die Bandnamen oben sprechen für sich selbst). Es gibt eine Reihe aktueller, bekannter Bands in allen Metal-Sub-Genres; hauptsächlich kommerziellere Stile (z.B. Haken, Tesseract etc.). Aber auf der dunklen Seite des Metals gibt es zum Beispiel Cruciamentum und Grave Miasma. Lvcifyre sind auch aus Großbritannien, aber einige würden wohl sagen, es ist eine polnische Band. Außerdem ist Extinction meiner Meinung nach das beste Black-Metal-Projekt aus Großbritannien. Isenscur, Hateful Abandon und RID sind auch gut, ebenso The One (wenn man die zählen kann). Fen und A Forest Of Stars scheinen auch eine starke Anhängerschaft zu haben.

Euer Stil ist ziemlich markant, dennoch habt ihr sicherlich auch gewisse Vorbilder, richtig? Euer Gitarrenspiel erinnert mich vom Klang her etwa zum Teil ein wenig an die ersten paar Opeth-Alben. Zählt ihr diese auch zu euren Einflüssen oder sollte man die eher woanders suchen?
Ich wurde nie von Opeth beeinflusst, aber ich mag die ersten Alben. In Metal ist mein Haupteinfluss wohl Emperor. Danach kommen dann Morbid Angel, Nocturnus und Unholy.

Ich gehe davon aus, dass ihr euch auch von Nicht-Metal-Musik inspirieren lasst, richtig? Welche Künstler sind in dieser Hinsicht für euch von Bedeutung?
Meine wichtige Inspiration kommt von Art Zoyd. Univers Zero sind ebenfalls wichtig für mich. Ich bin auch beeinflusst von klassischer Musik von Bach bis hin zu etwas Modernem wie Messiaen. Mir gefällt jedoch Musik aus der Zeit, in der die Spätromantik auf die Innovationen des 20. Jahrhunderts in der Musik trifft, oder besser gesagt, die früheren Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen: Rachmaninov, Ravel, Martinu, Marcel Dupré usw.

Obwohl eure Musik äußerst bemerkenswert ist, kann man euch wegen eures eher geringen Bekanntheitsgrades als Underground-Band bezeichnen. Stört dich das? Und woran, denkst du, liegt das?
Letztendlich ist die Musik unseres 2. und 3. Albums nicht einfach zu hören, sodass sich die Fanbasis nicht weit über die Anhänger dieses „speziellen“ Geschmacks hinaus entwickeln kann. Doch wer weiß, in welche Richtung wir auf unseren zukünftigen Veröffentlichungen noch gehen werden? Vielleicht wird es leichter verdaulich.
Ich denke, wenn es mich wirklich stören würde, hätte ich solche Alben gar nicht erst produziert. Das Wichtigste ist die Kunst. Somit ist die einzige Sache, die mich stören würde, wenn mir jemand sagte, dass ich etwas nur deswegen geschrieben hätte, weil es populär ist. Das wäre eine enttäuschende Einstellung. Musik sollte niemals mit dem Ziel veröffentlicht werden, eine bestimmte (größere) Fanbasis zu erreichen. Sie sollte zu dem Zweck veröffentlicht werden, etwas Wahrhaftiges auszudrücken – und wenn es den Leuten gefällt, großartig. Wenn nicht, na und?

Mit „The Contagion In Nine Steps“ habt ihr zuletzt eure dritte Platte veröffentlicht. Darauf behandelt ihr unter anderem Gruppenpsychologie. Welchen persönlichen Bezug hast du zu diesem Themengebiet?
Ich habe mich schon seit einiger Zeit sehr für dieses Thema interessiert, weil sich nach der Geburt des Internets neue Möglichkeiten der Massen- oder Gruppenpsychologie ergeben haben. Plötzlich sind wir von einer Reihe von Zivilisationen zu einem globalisierten Monster mit einer neuen Art des Informationsaustauschs und der Beeinflussung von Menschen durch große Technologieunternehmen und Informationsfilterung übergegangen. Es ist besonders interessant, diese Macht vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse zu betrachten.

Wie kann man sich diese „neun Schritte der Ansteckung“ vorstellen?
Die Zahl neun ist nur metaphorisch. Ich fand es amüsant, dass sich einige Leute darüber geärgert haben, dass das Album sechs Tracks hat, nicht neun. Meiner Meinung nach wäre es einfach zu offensichtlich gewesen, „in sechs Schritten“ zu sagen. Jedenfalls passen die „neun Schritte“ besser zu der lyrischen Metapher, es ist die ungefähre Anzahl der Stadien von Zivilisationen in Europa, in denen eine Ansteckung oder Gruppenpsychologie ihre Veränderungen und Evolution beeinflusst hat: Das antike Griechenland, das Römische Reich, die Christianisierung Europas und der Verlust des Heidentums, die Französische Revolution, bis hin zum Zweiten Weltkrieg.

Würdest du sagen, dass du selbst den psychologischen Phänomenen, die ihr thematisiert, ebenso unterworfen bist?
Ich glaube, das sind wir alle. Werden wir nicht alle von der Verbreitung einer Idee in der Gesellschaft infiziert? Ja, ganz genau.

Worin liegt deiner Meinung nach der markanteste Unterschied zwischen „An Antidote For The Glass Pill“ und eurem neuen Album?
Nun, „The Contagion….“ ist im Allgemeinen langsamer und weniger aggressiv. Es beinhaltet auch weniger Orgel und dafür mehr Chorpassagen und Dynamik. Unser neues Werk im nächsten Jahr wird voraussichtlich schneller und leichtherziger.

Ich nehme an, das Feedback zu „The Contagion In Nine Steps“ ist ziemlich gut ausgefallen, nicht wahr? Was waren deiner Wahrnehmung nach die Aspekte, die daran am meisten gelobt wurden?
Ich nehme an, die Atmosphäre – die herausfordernden Aspekte. Das Album kann man als eine „Reise“ betrachten. Die Leute mochten auch die Produktion.

Zuvor hast du bei euch die Orgel gespielt, auf eurer neuesten Platte hingegen ein Gastmusiker, stimmt’s? Was ist der Grund dafür?
Eigentlich ist das offenbar ein Fehler in den Metalarchiven. Ich habe auf keiner unserer Platten Orgel gespielt, abgesehen von ein paar Abschnitten (das zähle ich nicht wirklich). Meine Schwester spielte auf dem ersten Album, dann Kevin Bower auf dem zweiten, dann Vladimir auf dem dritten. Der Grund dafür ist, dass es schon genug Arbeit ist, alles zu komponieren, zu arrangieren und zu lernen, wie man es spielt. Auf allen Alben habe ich fast alle Gitarrenparts gespielt, das ist genug, um mich darauf zu konzentrieren. Es macht keinen Sinn, auch Orgel oder Klavier spielen zu müssen, wenn es jemand anderes kann, aber beim nächsten Mal werde ich es vielleicht selbst tun. Wir werden sehen.

Außerdem hört man diesmal zwei Gastsänger: Chris Hawkins und Alexandros. Wie kam es dazu und inwiefern ergänzen sie Gregs Vocals?
Bei „The Contagion….“ wollte ich schlicht keinen Klargesang selbst einsingen. Also versuchte ich es diesmal mit zwei Gästen – die ich beide schon persönlich kannte – und die damit beide etwas Wahrhaftiges einbrachten. Ich kann mir aber vorstellen, beim nächsten Mal wieder wie auf „An Antidote….“ cleane Vocals zu singen.

Auf dem Artwork sieht man ein verschwommenes Gebäude in einem menschlichen Kopf, außerdem ein paar schemenhafte Gestalten. Wer hat es kreiert und worin liegt die Verbindung zu dem Textkonzept?
Es ist von einem französisch-kanadischen Künstler namens Michel Guy. Er hat auch das Artwork für „An Antidote….“ gemacht. Man kann sich schon denken, dass das, was ich ihm gesagt habe und was er am Ende kreiert hat, zwei verschiedene Dinge waren. Der ursprüngliche Auftrag war sehr konkret, aber am Ende habe ich seiner künstlerischen Freiheit den Weg frei gemacht. Das Cover ist mit dem lyrischen Konzept verbunden, da es die Ansteckung durch die Menge darstellt.

Kommen wir nun noch zu unserem traditionellen Metal1.info-Brainstorming. Was kommt dir zu den folgenden Begriffen in den Sinn?
Symphonic Black Metal: Emperor
NWOBHM: Iron Maiden
Nationalismus: Brexit?!
Konsistenz vs. Innovation: Innovation
Social Media: Der Tod des eigentlichen sozialen Daseins…
Fußball-Weltmeisterschaft: Kroatien (lacht)

Zum Abschluss nochmals vielen Dank für dieses Interview. Die letzten Worte überlasse ich dir:
Danke für dieses Interview und das Interesse. Behaltet uns im Auge!

Publiziert am von Stephan Rajchl

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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