Zehn Jahre hat es gedauert, ehe die Avantgarde-Black-Metaller ATRORUM nach ihrem zweiten Album „Exhibition“ wieder etwas von sich hören ließen – und auch mit den Antworten auf unsere Interviewfragen zum bereits 2015 erschienenen „structurae“ ließen sich die vielbeschäftigten Herren knapp ein Jahr Zeit. Da man aber sowieso ungefähr so lange braucht, um das Werk zu entschlüsseln, kommt das Interview jetzt eigentlich gerade recht: Ein Gespräch über Phasenräume, Zwölftonmusik und darüber, was man als Avantgarde-Metaller von den Beatles lernen kann.
Woher rührte die lange Pause zwischen dem letzten und dem neuen Album?
Der Grund für die lange Pause war in erster Linie das Überlaufen unserer beiden Terminkalender. Wir haben nach dem Vorgänger von „structurae“ beide beruflich recht viel um die Ohren gehabt, fertig promoviert, nebenbei noch ein bisschen das Privatleben gepflegt, ich war eine Zeit lang im Ausland, wie das Leben eben so geht… Zudem haben wir beide noch andere musikalische Projekte, die auch live aktiv sind. Da wird ATRORUM dann zwangsweise immer etwas stiefmütterlich behandelt und hinten angestellt. An mangelnder Kreativität lag es auf jeden Fall nicht. Einige der Ideen auf „structurae“ sind schon fast zehn Jahre alt, trotzdem hat es sich bei den Aufnahmen dann so angefühlt, als sei die letzte Session noch keine Woche her.
Was habt ihr in der Zwischenzeit gemacht, wo habt ihr eure musikalische Kreativität ausgelebt?
Bei den Aufnahmen von „Exhibition“ hat es uns ein bisschen in verschiedene Richtungen verschlagen, da wir nach vielen gemeinsamen Jahren in einer sehr eklektischen Rockband musikalisch beide mal andere Sachen ausprobieren wollten. vatroS hat es Richtung Ska verschlagen, er ist bei den Münchner Ska-Urgesteinen beNuts eingestiegen. Ich bin bei den Münchner Black Metallern Nebelkrähe untergekommen. Wir haben uns dann bei den Progressive-Death-Metallern Dryad’s Tree wieder getroffen. Ich habe noch bei ein paar anderen Münchner Bands gespielt, die allesamt außerhalb des Metals aktiv sind. Wieder getroffen haben wir uns mittlerweile bei Rapid, einer Ska-Band, die vatroS aufgezogen hat und die live extrem aktiv ist. Langweilig war uns also die Jahre über nicht. (lacht)
Euer neues Album „structurae“ macht gleich optisch einiges her. Was genau sind die Strukturen, die auf dem Cover zu sehen sind?
Es freut mich, dass Du das fragst! Die Strukturen sind keine Wellenformen von Audiodateien wie einige Leute vermutet haben, sondern einer aktuellen Veröffentlichung zur Chaostheorie entnommen. Es sind, kurz gesagt, Visualisierungen von Phasenräumen, in denen Arnold-Diffusion auftritt. Ein physikalisches System mit vielen Freiheitsgraden, das man regelmäßig minimal stört, zeigt irgendwann chaotisches, also nicht mehr präzise vorhersagbares Verhalten. Wenn man ein chaotisches System aber lange genug beobachtet und richtig darstellt, wie eben in so einem Phasenraumdiagramm, zeigen sich in dem chaotischen Verhalten plötzlich doch Strukturen. Ich finde das wahnsinnig faszinierend und es ist eine sehr schöne und eigentlich auch anschauliche Visualisierung des Albumtitels.
Das Album ist im Gegensatz zu den beiden Vorgängern also kein Konzeptalbum im eigentlichen Sinne. Wie kam das, und wo siehst du die Vorteile, vielleicht aber auch Nachteile?
Das ist eine Frage, die wir auch vor den Sessions diskutiert haben. Willst Du ein Konzeptalbum schreiben, musst Du entweder einen relativ langen Entwicklungszeitrahmen in Kauf nehmen, weil die Ideen sich ja von Anfang an zu einem größeren Ganzen fügen müssen, oder halt die zündende Konzeptidee haben, um dich quasi daran entlangzuhangeln. Diese Idee war diesmal textlich nicht so zwingend vorhanden, so dass wir es nicht vertretbar fanden, uns auf was festzunageln, das uns nicht vollends überzeugt. Es war also zunächst ein befreiendes Gefühl, beim Schreiben der Songs nicht dem Diktat eines übergeordneten Konzepts zu unterliegen, so dass sich die einzelnen Songs freier entfalten konnten. Gegen Ende des Songwritings macht das Konzept es Dir aber wieder deutlich leichter, weil Du weißt wann Du fertig bist und ab einem gewissen Punkt nur noch das Mosaik komplettierst. Es war cool, mit ATRORUM mal weg von dem Konzept zu gehen, ich hätte aber auch nichts dagegen, wenn Album vier wieder ein Konzeptalbum würde.
Welche Strukturen finden sich in den Songs wieder, wo liegt der Schnittpunkt des Albumtitels mit der Musik?
Jeder Song setzt sich textlich mit einer Struktur auseinander. In „Menschsein“ geht es zum Beispiel um die Dynamiken und Strukturen von Gesellschaften. Jeder strebt nach Individualität, aber von außen betrachtet ist man dann doch nur ein unbedeutendes Partikel in einer gleichförmigen Masse und letztlich genauso hilflos statistischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen wie die Moleküle in einem Gas. „Große weiße Welt“ setzt sich mit neuronalen Strukturen auseinander und beschreibt die Gedankenwelt einer Person, die aufgrund ihrer Demenz den Kontakt zur Außenwelt verliert. Es muss unglaublich bedrohlich sein, wenn dein Gedächtnis schwindet und damit Kausalität und Zeit verblassen. „Amapolas“ beschreibt die Gräuel des Bürgerkriegs in Kolumbien. In „Ψαλμος” geht es um religiöse Machtstrukturen: Ein Chor singt simultan Psalm 18 der Bibel in sechs verschiedenen Sprachen. Psalm 18 ist ein ganz martialisches Stück in der Bibel, da heißt es im Wesentlichen “Wir sind das auserwählte Volk, deswegen hauen wir euch allen jetzt die Schädel ein” etc. – wenn das in sechs Sprachen gleichzeitig vorgetragen wird, wird klar, wie idiotisch diese Annahme des auserwählten Volks ist. “Camouflage” beschreibt die Degeneration einer übersättigten Gesellschaftsschicht, die einfach schon alles hat und sich dann daraus den Kick holt, sich oder andere sexuell zu erniedrigen. “Verfugung” lehnt sich an die Todesfuge von Paul Celan an und thematisiert den unterschwelligen Rassismus, der unter dem Deckmäntelchen der spießbürgerlichen Gesellschaft brodelt. Traurig eigentlich, als der Song geschrieben wurde, fühlte sich das noch eher wie ein fernes Thema an, mittlerweile ist der Song aber ziemlich aktuell. In “Equipartition” geht es um den Wärmetod des Universums. Jedes thermodynamische System läuft mit der Zeit ins Gleichgewicht, von sich aus aber nie in die andere Richtung. Also sind irgendwann alle chemischen Reaktionen abgelaufen, alle potentielle Energie zu Wärme dissipiert – es ist komplett tot und still, alles ist gleich. Es muss wohl das Königreich der Himmel sein, nachdem das Universum selbst darauf zu strebt. Das sind die Strukturen, um die sich das Album so dreht.
Wider dem Albumtitel „structurae“ klingt das Album nicht oft klar strukturiert. Was war die Idee dabei, gibt es dafür einen durchdachten Grund, oder sind die Songs einfach geworden, wie sie sind?
Ich bin immer ein bisschen erstaunt, wenn Leute sagen, unsere Musik sei nicht strukturiert. Gut, stilistisch gesehen ist ATRORUM schon eklektisch. Aber wenn wir schon nicht strukturiert sind, was zum Teufel sind dann Bands wie DILLINGER ESCAPE PLAN? Klar, einerseits hat man als Komponist sicherlich immer einen klareren Zugang dazu, wo eine Struktur in den Songs liegt, andererseits haben wir diesmal beim Schreiben in meinem Empfinden von vorn herein deutlich mehr auf Struktur geachtet. Womöglich sind einfach viele musikalische Strukturen in den Songs zu finden, die sich vielleicht nicht auf Anhieb erschließen und nicht jedermanns Hörgewohnheiten entsprechen. Nur ein Beispiel: Der Schlussteil von „Equipartition“, in dem zuerst die Synthies einsetzen und dann der Schlusschor den Song beendet, besteht aus Zwölftonthemen. Genauer sind es drei Zwölftonthemen, die übereinandergelegt eine Akkordstruktur ergeben – das sind die Akkorde, aus denen der Chorteil besteht. Der Synthiepart führt einfach nur die drei Zwölftonthemen nacheinander ein und baut so die Grundlage für den Chorteil. Und die Zwölftonmusik blitzt vorher den ganzen Song über immer wieder auf. Der Witz ist, dass in der Zwölftonmusik ja alle zwölf Töne in einer Oktave gleichberechtigt, damit auch equipartitioniert sind. Die Zwölftonmusik ist quasi das musikalische Äquivalent zu dem thermodynamischen Wärmetod des Universums, um den sich der Song dreht. Aber aus der absoluten tonalen Gleichverteilung kann man dann doch wieder Strukturen schaffen. Das ist sicher nicht naheliegend, aber ich hoffe dennoch, dass ein paar Leute die Muße und den Mut haben, sich ausführlich mit der Musik auseinanderzusetzen, um sich diese Strukturen gewissermaßen zu erarbeiten. Im meinem Schrank sind die Alben, die ich mir erarbeiten musste, in der Regel auch die, die den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen. Insofern haben wir da sicher den Drang, dem Hörer Dinge vorzusetzen, die erst beim zehnten Hören so richtig Sinn ergeben. Hier kann man auch einen Bogen zum Coverartwork schlagen – im Chaos steckt schon System, man muss halt nur rausfinden, wo man hinsehen muss.
Wie schreibt ihr generell als Duo solche Songungeheuer?
In der Regel entstehen die Alben in einer ausgedehnten Session oder in einem recht kurzen Zeitraum. Bei „structurae“ hatte ich relativ viel Material schon rumliegen, aber nicht fertig ausarrangiert. Wir haben uns dann nach ein paar Vorsessions eine Woche lang mit ausreichend Wein, Schnaps und Instrumenten weggesperrt. Es wird dann ein Thema oder Roharrangement aus dem Repertoire instrumentiert und aufgenommen. Beim Aufnehmen wird der Song dann weiterkomponiert und arrangiert. Unsere Songs wachsen also eigentlich von selbst bei den Aufnahmesessions. Glücklicherweise sind wir uns meist einig, in welche Richtung wir wollen, sonst würde die Methode nicht funktionieren.
Welche Bands oder Alben haben euch auf dem Weg zu „structurae“, also konkret während der Entstehungsphase des Albums, so begeistert, dass du sie vielleicht sogar als Einfluss nennen könntest?
vatroS war in der Zeit recht begeistert von der „Grace for Drowning“ von Steven Wilson. Das hat sicher dazu beigetragen, dass der Gesamtsound recht organisch ausgefallen ist. Ich habe in der Zeit primär Zeug gehört, das ich bei ATRORUM jetzt nicht einbinden hätte wollen. Da die Ideen zum Teil schon sehr alt sind, kann ich gar nicht mehr genau benennen, was da so Einfluss hatte.
Und welche „ollen Kamellen“ würdest du nach wie vor als stilprägend für ATRORUM angeben?
Bevor ich die Frage unter vorgehaltener Hand beantworte, müssen wir als anständige Avantgarde-Band natürlich voranstellen, dass wir uns von niemandem beeinflussen lassen, sondern stur unseren ureigenen Stil durchziehen, den man sonst von keinem kennt, und dass wir natürlich auch zum Frühstück ausschließlich Inspiriertheit essen und dann Mittags Ideen scheißen. Darüber hinaus waren wohl Ulver konzeptuell schon immer sehr inspirierend, vor allem ihre Fähigkeit, an jedes Album völlig neu heranzugehen und sich stilistisch nie binden zu lassen. Wir sind beide mit den Beatles großgeworden, und ich glaube, dass sie auch einen ziemlich großen Einfluss haben. Von den Beatles kann man viel über prägnante, nicht ausgelutschte Akkordverbindungen lernen und vor allem, wie man eingängige Songs schreibt. John Cage mit seiner Zwölftonmusik ist immer wieder wichtig, siehe „Equipartition“. Es gibt sicher noch viele Bands, die uns sehr prägen, aber dann halt eher unterbewusst. Viele musikalische Ideen, die einem so kommen, sind vermutlich auf irgendetwas gewachsen, was man gehört hat, ohne dass man den Einfluss klar benennen könnte. Ich glaube, das kann man als Hörer sogar besser beurteilen als wir.
Die Texte kommen diesmal in insgesamt sechs Sprachen daher. Wie seid ihr darauf gekommen, was ist die Idee dahinter und wer von euch kann all diese Sprachen?
vatroS ist ziemlich sprachverrückt, die Texte auf „structurae“ sind alle von ihm. Er hat Kenntnisse in all diesen Sprachen (außer Latein, aber Psalm 18 stand ja „gottseidank“ schon in der Bibel). Am Ende steht meist nochmal ein Muttersprachler beratend zur Seite. Die Sprachwahl hat sich eigentlich ziemlich natürlich ergeben. Teilweise ist die Sprache thematisch vorgegeben, wie beim spanischen „Amapólas“, in dem es ja um die Opfer des Bürgerkriegs in Kolumbien geht. Teilweise war aber auch der Sprachklang entscheidend, wie bei „Equipartition“ – zu dem sehr getragenen Song passt französisch mit seinem fließenden Klang einfach am besten. Ich persönlich schreie am liebsten auf deutsch rum, weil die Sprache so schön kantig ist. (lacht)
Mit Fremdsprachen macht man seine Texte ja automatisch für alle, die die Sprache nicht sprechen, unverständlich. Wäre es eine Idee, Übersetzungen der Texte zu veröffentlichen, oder ist der Inhalt der Texte nicht so wichtig?
Der Inhalt der Texte ist bei ATRORUM sogar ziemlich wichtig, weil Musik und Text eng aufeinander abgestimmt sind. Wir sind im Moment dabei, eine Homepage zu erstellen, auf der dann auch Übersetzungen der Texte zumindest auf Englisch verfügbar sein sollen. Ich empfinde das als ziemliche Gratwanderung – einerseits ist es unsinnig und ein bisschen lächerlich, die Hörer zu belehren und ihnen vorzukauen, was sie in den Texten zu sehen haben, andererseits hast du natürlich recht, dass aufgrund der Sprachen vielen Leuten der Zugang verschlossen bleibt. Ich denke, es ist auf jeden Fall eine gute Idee, den Leuten die Option zu geben, die Texte nachzulesen, die sie nicht verstehen, wenn sie es denn wollen. Vermutlich gibt es aber auch Leute, die das gar nicht interessiert. Ich glaube aber wirklich, dass das Konzept hinter ATRORUM noch eine Dimension gewinnt, wenn man sich auch auf die Texte einlässt.
Gleiches gilt natürlich für die deutsche Sprache in allen anderen Ländern – ihr seid trotzdem bei einem französischen Label untergekommen. Wie kam das, und waren die deutschen Texte auf der Labelsuche eher förder- oder hinderlich?
Die Labellandschaft für Avantgarde Black Metal ist in Europa recht übersichtlich, sage ich mal. Wir haben uns ganz klassisch überall initiativ beworben. Jehan von Apathia war einer der ersten, der sich auf unsere Bewerbung gemeldet hat. Ich schätze die Sachen, die auf Apathia veröffentlicht werden, sehr. Wir sind uns dann relativ schnell einig geworden. Apathia haben sich an den deutschen Texten nicht gestört. Ich glaube auch generell nicht, dass die deutschen Texte in dem Genre ein entscheidendes Hindernis wären. Auf dem Avantgarde-Sektor sind die Leute Seltsames gewöhnt, da sind deutsche Texte jetzt kein Aufreger. Als wir uns vor zehn Jahren mit „Exhibition“ bei Labels beworben haben, schrieb uns ein größeres amerikanisches Label aber tatsächlich mal, dass deutsche Texte nur bei Rammstein OK seien, und man das als neue Band nicht bringen könne. Eine sehr eigenartige Ansicht, wie ich finde.
Wie steht es um die nahe und ferne Zukunft von ATRORUM – was dürfen wir uns erwarten? Gibt es Live-Pläne?
Wir haben mittlerweile ein Live-Lineup zusammen und hoffen, im Laufe des nächsten Jahres livetauglich zu sein. ATRORUM wird sich aufgrund unserer Terminkalender wohl auf wenige ausgewählte Auftritte beschränken müssen, aber ich freue mich sehr darauf, die Sachen vor Publikum zu präsentieren.
Und werden die Fans wieder zehn Jahre auf ein neues Album warten müssen?
Das nächste Album wird hoffentlich keine zehn Jahre auf sich warten lassen. Es ist noch eine Menge Material vorhanden, das auf „structurae“ nicht mehr gepasst hat. Sobald die Muße für eine Recording-Session vorhanden ist, geht es wieder los. Mein vorsichtiger Tipp wäre Mitte 2018. Wir wollen beide auf jeden Fall vor 2026 das neue Album fertig haben. (lacht)
Besten Dank für Zeit und Antworten. Zum Abschluss ein Brainstorming: Was fällt dir spontan zu folgenden Begriffen ein?
Black Metal: Engstirnigkeit, Freigeistigkeit, Dogmatismus, Anarchie, die schönste Musik, seit es Satan gibt!
Spargel: Leckere Angelegenheit, auch gefroren als Abkühlung sehr zu empfehlen!
Bernie Sanders: sehr inspirierend und ein wichtiger Impulsgeber, die Leute sollten ihm wirklich dankbar sein für seine Sturheit.
Ska: Macht live mehr Spaß als ich gedacht hätte!
ATRORUM in 10 Jahren: Ähm, hoffentlich nicht im Studio für Album Nummer 4, sondern schon für Album Nummer 5!
Die letzten Worte gehören dir – gibt es noch etwas, was du unseren Lesern mitteilen möchtest?
Die besten Alben sind die, die man sich erarbeiten muss. Keine Süßigkeiten von fremden Leuten annehmen! Die Zusatzzahl lautet natürlich 42.